Der neue Annex 1 | Eine erste Analyse

Autor: Dipl.-Ing. Ruven Brandes l Wirtschaftsgenossenschaft deutscher Tierärzte eG (WDT), Garbsen*)

Letzte Änderung: 20.12.2023

Die mit Spannung erwartete aktualisierte Fassung des Annex 1 zum Good-Manufacturing-Practice(GMP)-Leitfaden der EU wurde im Aug. 2022 veröffentlicht. Die neue Version tritt zum 25.08.2023 in Kraft. Lediglich Ziffer 8 123 mit Anforderungen an die Sterilisation von Lyophilisatoren tritt erst 1 Jahr später – zum 25.08.2024 – in Kraft.

Die Herstellung steriler pharmazeutischer Produkte hat Aufsichtsbehörden und die Industrie schon immer vor einige Herausforderungen gestellt. Die Gewährleistung einer angemessenen Qualität und die Sicherstellung der Sterilität sind 2 wichtige Aspekte, die bei der Herstellung und Kontrolle steriler Produkte berücksichtigt werden müssen. Traditionell haben Regulierungsbehörden in erster Linie ihre eigenen Good-Manufacturing-Practice(GMP)-Richtlinien für die Herstellung und Kontrolle steriler Produkte durchgesetzt. Aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen, Anforderungen und Auslegungen dieser Standards war die Einhaltung oft ein Problem für einige Hersteller, die ihre Produkte in verschiedene Länder/Märkte liefern. Hersteller, die Produkte in die USA, die Europäische Union, Mitglieder des Pharmaceutical Inspection Co-Operation Scheme (PIC/S) und Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) exportieren, mussten die unterschiedlichen Anforderungen für die beabsichtigten Märkte berücksichtigen. Im Rahmen des globalen Harmonisierungsprozesses von Normen und Standards (z. B. Arzneibuchmonographien und GxP) wurde eine Arbeitsgruppe zur Überarbeitung des EU-Annex 1 eingerichtet. Die Überarbeitung des alten Annex 1 erstreckte sich über mehrere Jahre. Daran beteiligt waren mehrere Länder und deren Repräsentanten, darunter auch die USA, vertreten durch die US Food and Drug Administration (FDA). Angestrebt war ein harmonisierter GMP-Text für die Herstellung steriler Produkte, der von allen beteiligten Parteien angenommen wird. Im Laufe der Jahre wurden mehr als 8 000 Kommentare berücksichtigt
und diskutiert.

Der Fokus des neuen Annex 1 liegt auf der Herstellung steriler Produkte, welche besonderen Anforderungen unterliegen müssen. Diese Anforderungen sind zwingend notwendig, um das Risiko einer mikrobiologischen, partikulären und pyrogenen Kontamination steriler Produkte zu minimieren. Gleichzeitig soll der neue Annex 1 eine Art Handlungsanleitung sein, wie sterile Produkte am besten geschützt werden können.

Zu den Auslösern für die Überarbeitung des Anhangs gehörten die rasanten Entwicklungen neuer Technologien, eine oftmals unzureichende Ursachenanalyse von Fehlern, ineffektive Corrective-and-Preventive-Action(CAPA)-Systeme, eine mangelhafte Umsetzung der Guideline Q9 des International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use (ICH) sowie verschiedene Unklarheiten bei der Auslegung der Anforderungen des aktuell gültigen Annex 1.

Der Annex 1 des EU-GM-Leitfadens wurde erstmals 1989 veröffentlicht und ist seit 2007 keiner grundlegenden Überarbeitung mehr unterzogen worden. Seit 2009 hat es keine Änderung mehr gegeben. Die wichtigsten Inhalte der Revision aus dem Jahr 2007 betrafen:

  • Reinraumklassifizierung und -monitoring
  • Verbördeln von Vials
  • Nährmediensimulation
  • Kontrolle der mikrobiologischen Grundbelastung (Bioburden)

Damit war klar, dass es einer dringenden Revision des Annex 1 bedurfte. 2014 wurde erstmals angekündigt, dass der Annex 1 überarbeitet werden soll. Ein Signal, dass ein Entwurf kommen würde, kam mit der Veröffentlichung des Concept Paper. Mit der Veröffentlichung eines weiteren Richtlinienentwurfs für die Sterilisation pharmazeutischer Produkte im Jahr 2016 durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) wurde der Druck zur Aktualisierung des Annex 1 erhöht. Spezielle Punkte aus dieser Richtlinie mussten in die Entwürfe zum neuen Annex 1 einfließen. Die Gründe für den langwierigen Prozess zur Entstehung des Dokuments sind auf nationale Unterschiede bei der Überarbeitung und auf bestimmte technische Aspekte im Dokument zurückzuführen.

Der neue Annex 1 konzentriert sich auf 4 große Änderungsmerkmale. Diese Änderungsmerkmale werden an verschiedenen Stellen im
Dokument immer wieder reflektiert. Diese 4 Änderungsmerkmale sind:

1. ICH Q9 (Qualitätsrisikomanagement) und ICH Q10 (Pharmazeutisches Qualitätssystem) spiegeln sich nicht direkt im aktuellen Annex 1 wider. Der neue Annex 1 enthält dafür zahlreiche Verweise auf das Qualitätsrisikomanagement (QRM). Wobei betont wird, dass QRM als proaktives Werkzeug verwendet werden sollte.

2. Aufnahme neuer Fertigungstechnologien in der Herstellung steriler Produkte – insbesondere bei Restricted Access Barrier Systems (RABS) und Isolatoren. Mikrobiologische Schnellmethoden wurden ebenfalls mit aufgenommen. Diese Fertigungstechnologien und Methoden werden im neuen Annex 1 diskutiert.

3. In der aktuellen gültigen Version zum Annex 1 gab es massive Unklarheiten. Diese Unklarheiten wurden durch ein Glossar zu korrigieren oder aufzulösen versucht.

4. Der Annex 1 geht jetzt über die sterile Herstellung hinaus und zeigt zusätzlich Aspekte zur nicht sterilen Herstellung auf. Damit gibt es im Annex 1 erstmals auch eine Handlungsanweisung für Hersteller nicht steriler Arzneimittel.

Zu den 4 Grundsatzänderungen kommt die Forderung nach einer formalen, ganzheitlichen Kontaminationskontrollstrategie hinzu. Die Erwartungshaltung ist es, ein formales Dokument zu erstellen, das die standortweite Strategie zur Kontaminationskontrolle in Bezug auf die sterile Herstellung widerspiegelt.

Der Sinn dieser Formulierung im neuen Annex 1 besteht darin, die Veränderungen in Bezug auf aktuelle Themen losgelöst von Änderungen des regulatorischen Hintergrunds zu überprüfen und dadurch die Herstellung steriler Arzneimittelprodukte besser zu verstehen und ggf. anzupassen.

 

Einführende Abschnitte

Der neue Annex 1 beginnt mit einer Inhaltsliste und ist in 11 Teile gegliedert. Mit dem neuen Scope-Abschnitt enthält der neue Annex 1 eine breitere Definition steriler Produkte, nämlich vom sterilen Wirkstoff bis hin zur fertigen Darreichungsform.

In diesem Scope-Abschnitt wird auf das QRM zur mikrobiellen Kontaminationskontrolle verwiesen. Es wird betont, dass QRM ein proaktives Werkzeug sein muss. Dieser Punkt wird im gesamten Dokument mehrmals wiederholt. Der Verweis auf das QRM richtet den Annex 1 an ICH Q9 (Qualitätsrisikomanagement) aus. Was die Sprache im Dokument selbst anbelangt, sind die Formulierungen nicht immer eindeutig und konsistent gewählt –
was dazu führt, dass einige Punkte unklar bleiben werden.

In dem Scope-Abschnitt wird außerdem darauf hingewiesen, dass der Inhalt des Annex 1 auf bestimmte Arten von nicht sterilen Verarbeitungen anwendbar ist. Dies bezieht sich auf mikrobielle, partikuläre und pyrogene Kontrollen, bei denen die Prinzipien auf die Gestaltung von kontrollierten Umgebungen, Kleidung und Personalpraktiken angewendet werden können. Es werden damit Festlegungen getroffen, die als Stand von Wissenschaft und Technik zukünftig auch bei der Herstellung nicht steriler Produkte erwartet werden.

Nach dem Scope-Abschnitt kommt ein Teil mit dem Titel „Principles“. Dieser Abschnitt behandelt eine Reihe wichtiger Themen. Die ersten adressierten Bereiche sind Qualifizierung und Validierung. Der Annex 1 sieht vor, dass andere Anhänge des EU-GMP-Leitfadens befolgt werden müssen – insbesondere der Anhang 11 für computergestützte Systems und der Anhang 15 zur Qualifizierung und Validierung. Damit wird der Annex 1 erstmals formal mit anderen Teilen des EUGMP- Leitfadens verknüpft.

Es wird auf das Personal hingewiesen, das ausreichend qualifiziert sein muss. Diese Qualifizierung muss aufrechterhalten werden. In diesem Zusammenhang geht es auch um die Bedeutung des Personals mit entsprechenden Fähigkeiten, um Schulungen und den Nutzen einer positiven Einstellung zur sterilen Arbeitsweise, immer mit dem Blick auf den Schutz der sterilen Produkte. Interessant ist der Hinweis auf die mentale Einstellung des Personals. Dadurch wird wieder mehr Wert auf das menschliche Verhalten innerhalb der aseptischen Fertigung gelegt. Die Mitarbeiter sollen motiviert werden, ein qualitativ hochwertiges Produkt zu erzeugen. Diese Betrachtung war durch den zunehmenden Automatisierungsgrad innerhalb der Herstellung in den letzten Jahren etwas aus dem Fokus geraten.

Diese Grundsatzhaltung gilt nun für die Bereiche Herstellung, Verpackung und Vertrieb. Der letztgenannte Bereich Vertrieb ist oft von Schulungen im Unternehmen ausgenommen. Deshalb sehen die Ersteller des Annex 1 hier möglicherweise ein Problem, das vom Hersteller aufgelöst werden muss.

Kontaminationskontrollstrategie

Ein wesentlicher Teil der einführenden Abschnitte ist eine detaillierte anlagenspezifische Strategie für die Kontaminierungskontrolle. Dieser neue Aspekt bezieht sich darauf, dass scheinbar isolierte Kontaminationsereignisse ganzheitlich bewertet und geeignete Korrektur- und Vorbeugungsmaßnahmen eingeleitet werden sollten. Dies soll einen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Kontrolle einer möglichen Kontamination einleiten und den Prozess der Risikobewertung auf einen Weg bringen, der die Auswirkungen eines Kontaminationsereignisses in einem viel breiteren Kontext bewertet.
Die wichtigsten Elemente einer solchen Kontrollstrategie sind:

  • Design der Anlage und des Prozesses
  • Ausrüstung und Einrichtungen
  • Personal
  • Betriebsmittel oder sonstige Materialien
  • Rohstoffkontrolle – einschließlich In-Prozess-Kontrollen
  • Produktbehälter und -verschlüsse
  • Herstellergenehmigungen für z. B. Lieferanten von Schlüsselkomponenten
  • Für ausgelagerte Dienstleistungen wie z. B. qualitätskritische Sterilisation sollten dem Hersteller ausreichende Beweise vorgelegt werden, um sicherzustellen, dass der Prozess ordnungsgemäß funktioniert.
  • Prozessrisikobewertung
  • Prozessvalidierung
  • Präventive Wartung: Die Wartung von Ausrüstung und Räumlichkeiten (geplante und ungeplante Wartung) sollte so erfolgen, dass ein signifikantes Kontaminationsrisiko vermieden wird.
  • Reinigung und Desinfektion
  • Monitoring-Systeme – einschließlich einer Bewertung der Machbarkeit zur Einführung wissenschaftlich fundierter, moderner Methoden, die die Erkennung von Umfeldkontaminationen zulassen.
  • Prävention: Trends, Untersuchungen, Korrektur- und Vorbeugungsmaßnahmen (CAPA), Ursachenbestimmung und die Notwendigkeit robusterer Untersuchungswerkzeuge
  • Kontinuierliche Verbesserung basierend auf Informationen aus den o. g. Systemen

Der Annex 1 bezieht sich auch auf andere Standards, die bei der Zusammenführung der Kontrollstrategie überprüft werden sollten. Obwohl nicht direkt benannt, wie viele erhofft hatten, würde dies zu der Schlussfolgerung führen, dass die ISO 14698 beachtet werden muss. Innerhalb der Kontrollstrategie sollten moderne Methoden und der Prozess der kontinuierlichen Verbesserung berücksichtigt werden. Dies signalisiert den pharmazeutischen Herstellern, dass die Branchentrends für die besten verfügbaren Technologien kontinuierlich analysiert werden müssen.

Der Annex 1 betont ebenfalls, dass die Strategie zur Kontrolle der Kontaminierung regelmäßig auf ihre Angemessenheit hin überprüft werden muss. Innerhalb dieser Überprüfung muss Bezug darauf genommen werden, wie gut ein etabliertes CAPA-System funktioniert. Dies beinhaltet nicht nur die Effektivität der Untersuchungsergebnisse, sondern auch die regelmäßige Überprüfung der Trenddaten.

Pharmazeutisches Qualitätssystem

Das erste Hauptkapitel bezieht sich auf das pharmazeutische Qualitätssystem. Während allgemeine Aspekte im Kapitel 1 des EU-GMP-Leitfadens behandelt werden, bezieht sich Annex 1 auf spezifische Inhalte für die Herstellung steriler Produkte. Diese Aspekte beinhalten folgende Forderungen:

  • Proaktiver Einsatz eines Risikomanagements
  • Regelmäßige Überprüfung der Risikobewertungen
  • Einstellung von Personal, das über ausreichende Fachkenntnisse verfügt, um Risikobewertungen vorzunehmen
  • Verwendung effektiver Ursachenanalysen und CAPA-Systeme
  • Diejenigen, die mit der Freigabe von Produkten beauftragt sind, müssen mit Risiken und Qualitätsproblemen vertraut sein.
  • Die Verpackung und der Vertrieb des fertigen Arzneimittels müssen mit betrachtet werden. Deshalb müssen die Anforderungen der guten Vertriebspraxis erfüllt werden.

 

Zusammenfassung

Der Schwerpunkt bei der Aufstellung von Standards durch die Behörden lag bislang mehr in der Verhinderung schlechter Praktiken, die der Behörde durch Inspektionen und Produktprobleme bekannt wurden, als in der Förderung neuer, fortschrittlicher Lösungen.

Der überarbeitete Annex 1 ist jetzt durch die Annahme des „Best Practice“ anstelle des „Worst Case“ geprägt. Dieser Ansatz stimmt mit den neuen wissenschafts- und risikobasierten regulatorischen Bestrebungen grundsätzlich überein.

Der neue Annex 1 ist eine umfassende Neufassung der vorherigen Versionen. Der Schwerpunkt liegt auf der Anwendung von QRM und Prozessqualifizierung (Media Fill). Den Einsatz moderner Barrieretechnik für die aseptische Herstellung als Stand der Technik zu bezeichnen und zu beschreiben, wurde mehr oder weniger gut umgesetzt. Es gibt einige neue Informationen zu einer breiten Palette von Technologien, die bisher nicht oder nur unvollständig abgedeckt wurden. Einige Unklarheiten bzw. ungenaue Formulierungen aus der derzeitig gültigen Version wurden behoben.

Leider sind jedoch nicht alle Unklarheiten beseitigt worden. Im Gegenteil, es sind einige neue Unklarheiten dazu gekommen. Aus Sicht des Autors ist zu dem neuen Annex 1 ein Fragen-und-Antwort-Papier zwingend, um die offenen Fragen zu beantworten. Dies wird der Königsweg sein. Die ersten Gespräche dazu sind erfolgt!

 

*) Gekürzter Beitrag aus Pharm. Ind. 2023;85 (3):300–307.

Disclaimer Die Darstellungen bilden den aktuellen Kenntnisstand, bzw. die Sichtweise des Vortragenden ab und dienen der Informationsvermittlung. Sie entsprechen nicht zwangsläufig der Meinung von Behörden, Inspektoren oder Auditoren. Obwohl sie mit großer Sorgfalt erstellt wurden, kann in Bezug auf die inhaltliche Richtigkeit, Genauigkeit, Aktualität, Zuverlässigkeit und Vollständigkeit dieser Informationen keine Gewährleistung übernommen werden.

Ruven Brandes arbeitet seit mehr als 15 Jahre in der pharmazeutischen Industrie. Als Experte verbindet er technische Fachkompetenz mit ausgeprägtem Qualitätsbewusstsein. Im Jahr 2020 wurde er als einer der besten 100 IIoT-Top-Influencer ausgezeichnet. Als Ingenieur ist es Ihm ein großes Anliegen, technische Belange und GMP-Anforderungen miteinander zu verbinden. Die verschiedenen beruflichen Stationen ermöglichten Ihm ein tiefes Verständnis für unterschiedliche Standpunkte in einem pharmazeutischen Unternehmen. In der Gremienarbeit (ISPE/VDI), als Referent auf Kongressen und als Autor erreicht er eine große Zuhörer- und Leserschaft.