Augmented Reality im pharmazeutischen Produktions- und Verpackungsbetrieb

Autor: Robert Hoffmeister l Goodly Innovations GmbH, Grünwald*

Letzte Änderung: 15.12.2023

Mithilfe von Augmented-Reality(AR)-Technologie können komplexe manuelle Prozesse an Pharmaproduktions- oder Verpackungsanlagen schneller und genauer ausgeführt werden. Dabei kann es sich z. B. um Einricht-, Umrüst- oder Instandhaltungs- und Wartungsprozesse handeln. Die Technologie erlaubt die Verwendung digitaler Arbeitsanweisungen (SOPs) und ermöglicht eine papierlose Dokumentation bis hin zur Anbindung an ein elektronisches Batch-Record-System (EBR).

In diesem Beitrag werden verschiedene Varianten von Assisted, Mixed Reality (MR) oder AR hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile beim Einsatz in der Pharmaproduktion und -verpackung untersucht.

Schließlich wird die Rolle von AR im Rahmen einer digitalen Transformation der Pharmaverpackung diskutiert.

 

In diesem Übersichtsbeitrag werden die verschiedenen Formen der industriell einsetzbaren „Augmented Reality“ (AR) bzw. „Mixed Reality“ (MR) besprochen und wie mithilfe dieser Technologien die Mitarbeitenden in der Pharmaindustrie in der Wartung, in der Technik, im Service und auch in der Produktion selbst unterstützt werden können. Von Virtueller Realität (VR) soll in diesem Zusammenhang nicht die Rede sein, da sie im unmittelbaren Produktionsumfeld aus verschiedensten Gründen nicht einsetzbar ist.

Der Einsatz von AR hingegen ist in der realen Umgebung beim Arbeiten oder Trainieren als unterstützende Technologie schon recht verbreitet. Der Mitarbeiter sieht jederzeit seine wirkliche Arbeitsumgebung sowie zusätzlich eingeblendete Informationen. Entweder auf einem kleinen Display in einer fixen Position und Entfernung direkt vor einem oder beiden Augen oder, wie bei der Microsoft Hololens, mit beiden Augen, räumlich und dreidimensional in die Arbeitsumgebung integriert.

Eine grundlegende Frage sollte sein, welche Herausforderungen es heute in pharmazeutischen Verpackungsbetrieben gibt, für die Augmented Reality eine Lösung anbieten kann, ob dies sinnvoll ist, und welche Probleme wirklich optimal mit Hilfe dieser Technologie gelöst werden können.

 

Typische Probleme bei manuellen Prozessen in pharmazeutischen Verpackungsbetrieben

Die Komplexität des Produktportfolios im Pharmabetrieb nimmt stetig zu. Regulatorische Veränderungen in den Märkten, kommerzielle Anforderungen an kleine Losgrößen und die Nachfrage nach regionaler Produktion (auch aufgrund der Corona-Pandemie) führen zu einem sehr vielfältigeren Portfolio pro Standort. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, wird die Flexibilität entlang der gesamten Wertschöpfungskette immer wichtiger.

Darüber hinaus zwingt die aktuelle Personalknappheit viele Standorte dazu, das Personal in der Produktion zu reduzieren, wodurch man versucht, mit Bedienerschulungen und -fähigkeiten flexibler umzugehen.

Pharma 4.0 verbessert das Prozessmanagement und bietet neue Möglichkeiten für die Fertigung. Obwohl Manufacturing Execution Systems (MES) und Industrial Internet of Things (IIoT) bereits einen höheren Nutzen in Bezug auf Automatisierung und Zuverlässigkeit bewirken, sollten Pharmahersteller noch einen Schritt weiter gehen, um einen immer größeren Benefit durch den flexiblen Einsatz des Produktionssystems zu erzielen.

Bei der Verpackung von pharmazeutischen Produkten ist der Automatisierungsgrad heute noch immer relativ gering, und er wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Dies ist auch bedingt durch die große Anzahl vorhandener Linien und Maschinen auf verhältnismäßig geringem Digitalisierungsstand. Aber auch bei modernen Anlagen haben Mechaniker, Maschineneinrichter und Anlagenbediener eine Vielzahl manueller Arbeitsschritte zu verrichten. Dies gilt nicht nur beim Betrieb und der Wartung, sondern auch bei den enorm zeitaufwendigen und fehleranfälligen manuellen Prozessen zwischen den Chargen. Diese enormen Stillstandzeiten entstehen durch häufiges Umrüsten, Reinigen, Abräumen und Dokumentieren.

Externe Faktoren führen dazu, dass das Problem stetig größer wird. Waren in der Vergangenheit noch häufig mehrsprachige Packungsbeilagen im Einsatz, so findet man heute mehr und mehr landesspezifische Aufmachungen, was zu geringeren Auftragsgrößen und damit häufigeren Umrüstungen führt.

In Zeiten steigender Inflation und damit steigenden Kapitalkosten sowie generell durch schrumpfende Margen wird der Druck auf die Reduzierung von Lagerbeständen wachsen. Das Resultat ist ähnlich: kürzere Laufzeiten und häufigere Umrüstungen.

 

„Klassische“ Ansätze zur Problemlösung

Um die Stillstandzeiten z. B. von Verpackungsanlagen zu reduzieren, versucht die Industrie, die exakten Abläufe von Ein-, Umrüst- oder Instandhaltungsprozessen zu optimieren. Dazu werden verschiedene Ansätze gewählt. Vermeintlich ideale Sequenzen von Prozessschritten werden z. B. im Human Machine Interface (HMI) gespeichert und dort angezeigt oder auch nur in Papierform den Mitarbeitenden an die Hand gegeben. Dabei ist es i. d. R nicht einfach möglich, diese Arbeitsschritte dynamisch auf eine variable Anzahl von Mitarbeitenden zu verteilen, schon gar nicht, wenn sich die Anzahl der zur Verfügung stehenden Mitarbeitenden während eines komplexen Prozess ändert.

In solchen Situationen können die neuen Technologien wie MR oder AR sehr schnell zu signifikanten Produktivitätssteigerungen führen, wenn die gewählten Systeme über die im weiteren Verlauf des Beitrags erwähnte „Multi-User-Funktionalität“ verfügen.

Generell sollten AR/MR-unterstützte Systeme nicht isoliert oder als Ersatz für bewährte Methoden aus dem Spektrum der Lean- und Operational-Excellence-Programme eingesetzt werden, sondern werden ihren optimalen Beitrag im Zusammenspiel mit diesen liefern. Der Anwender kann dabei mit der Unterstützung durch AR/MR-Systeme beginnen und die „Low Hanging Fruits“ ernten, die schnellen Produktivitätsgewinne einfahren und später – auch unter Nutzung der von diesen Systemen generierten Daten – die eigentlichen Prozesse und Sequenzen von Arbeitsschritten optimieren.

Kontinuierliche Verbesserungen führen zu neuen, mithilfe von AR-Führung zu standardisierenden Prozessen. Diese werden nach einer Stabilisierungsphase erneut analysiert, verbessert und standardisiert. Diese Plan-Do-Check-Act (PDCA)-Zyklen sind in der Lean-Literatur hinreichend beschrieben und gelebte Praxis in vielen Unternehmen.

 

Fazit

Die wesentlichen Unterschiede zwischen AR, MR und VR und ihre möglichen Anwendungen im Bereich Pharma-Verpackung und Produktion wurden beschrieben. Während VR nur im Trainingsbereich verwendet wird, findet AR Einsatz bei der Führung durch komplexe manuelle Prozesse. Man arbeitet damit bei der Montage, der Instandhaltung und auch im regulären Betrieb von Produktions- und Verpackungsanlagen; dies führt zu enormen Produktivitäts-, Effizienz- und auch Qualitätsverbesserungen.

Führende Systeme zeichnen sich durch größtmögliche Flexibilität aus, wie z. B. die erwähnte Multi- User-Fähigkeit oder die Möglichkeit, abhängig vom Ausbildungsstand oder der individuellen Präferenz aus verschiedenen Endgeräten zu wählen. Außerdem ist die Einhaltung von Anforderungen im GxP-regulierten Bereich eine Grundvoraussetzung für den Einsatz in der pharmazeutischen Industrie.

AR-Prozessführung verspricht somit enorme Vorteile für Pharmahersteller:

– Bis zu 45-prozentige Reduzierung der Change-Over-Zeit bei Verwendung von AR-Systemen, die die Komplexität von Rüstprozessen abbilden und die Arbeiten auf das Team verteilen können

– Signifikante Reduzierung oder oft komplette Eliminierung der Abweichungen bei allen manuellen Aktivitäten

– Effektivere und schnellere Einarbeitung, Onboarding mit weniger Bedarf der Führung durch erfahreneres Personal wie Vorarbeiter oder generell Supervisoren

Darüber hinaus betrachten führende Beratungsunternehmen die AR-Prozessführung als einen „No-regrets“-Schritt, da sie keine bedeutenden Infrastrukturinvestitionen erfordert.

Eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche, werks- oder unternehmensweite Implementierung eines solchen Projekts ist, dass das Projekt von den Verantwortlichen für das „Business“ z. B. in den Bereichen Engineering, Maintenance oder Produktion vorangetrieben wird (Project Ownership) und dass es nicht isoliert als IT-Projekt positioniert wird.

*) Gekürzter Beitrag aus TechnoPharm 2023;13 (2):60–67.

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